Etwa 334 Milliarden Euro (geschätzt für 2009) werden jährlich mit Derivaten (Optionsscheinen, Knockouts und CFDs) an Deutschen Börsen umgesetzt. Diese Instrumente, schon in der Antike angewandt, dienten ursprünglich ausschließlich der Absicherung gegen Schwankungen eines zugrunde liegenden Wertes, des sogenannten Underlyings. Und diese Funktion ist sehr sinnvoll. Man stelle sich vor, der Bauer möchte vor der Ernte eine neue Maschine anschaffen, er überlegt ob sich das lohnt und hätte gern für den Verkauf seiner Ernte schon Verträge mit den Abnehmern geschlossen. Jedoch wissen weder er noch die Abnehmer, wie das Wetter in den kommenden Monaten ausfallen wird, wie gut oder schlecht somit die Ernte, und wie teuer oder preiswert Korn auf den Märkten im kommenden Herbst zu haben sein wird. Die beiden Handelspartner können sich dennoch auf einen Preis einigen. Stellt jedoch der Bauer im Herbst fest, dass die Kornpreise höher liegen als sein im Frühjahr ausgehandelter Preis, wird er sich über den entgangenen Gewinn ärgern. Dagegen kann er sich aber versichern. Für wenig Geld kauft er eine gehebelte Option auf einen steigenden Kornpreis, mit der er in diesem Fall verdient. Fällt der Preis hingegen, lässt er die Option für das wenige Geld verfallen, hat aber einen höheren als den im Herbst fälligen Marktpreis für das Korn ausgehandelt. Dieses Beispiel lässt sich – hochaktuell – sehr gut auch auf Währungsschwankungen beziehen, gegen die sich international produzierende und vertreibende Unternehmen ständig versichern müssen.
Mit dem komplexer werdenden Welthandel im Zuge der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts stieg der Bedarf an ausgeklügelten Optionen, und im Jahr 1973 entwickelten Black, Scoles und Merton ein Optionspreismodell, mit dem der faire Wert solcher Optionen in Bezug auf Hebel, Zeitwertverlust, Anpassung an Volatilitäten und andere Kennzahlen ermittelt werden sollte und das bis heute größtenteils zur Berechnung von Optionsscheinpreisen herangezogen wird. Merton und Scoles erhielten dafür im Jahr 1997 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften, Black war bereits 1995 verstorben. Allerdings gingen Merton und Scoles auch 1998 mit dem LTCM-Fond pleite, was nicht der Ironie entbehrt. Benoit Mandelbrot kritisiert in „Fraktale und Finanzen“ heftig die mathematischen Grundlagen des Black-Scoles-Merton-Modells, das eben nicht zur wirklich fairen Preisbildung von Optionsscheinen beitrüge, und die Finanzwelt empfand über viele Jahre „gefühlt“ das Gleiche: Beim Handel mit Optionsscheinen erlebte man größtenteils Enttäuschungen oder fühlte sich gar von den Emittenten der Papiere getäuscht. Möglicherweise ist diese Beurteilung abseits der rein mathematischen Einschätzung von Mandelbrot nicht ganz fair. Denn das Modell wurde ursprünglich als Insolvenzprognoseverfahren entwickelt, und inwieweit es hier seinen Zweck erfüllt, steht auf einem anderen Papier.
Die Enttäuschung der Finanzwelt rührte möglicherweise auch aus einem ganz anderen Motiv: Mit dem umfassenden Handel von Optionsscheinen wurde Anlegern ein Instrument in die Hand gegeben, das die hochgehebelte Spekulation auf steigende und fallende Kurse mit sehr wenig Kapitaleinsatz ermöglichte und so einerseit mehr und mehr Kleinspekulanten in den Markt lockte, andererseits die Spekulation zunehmend von der zugrunde liegenden Idee – der Unternehmensfinanzierung mittels Aktien, die man lange hält, an die (und das Unternehmen) man sich auch innerlich bindet – abkoppelte. Schnelle Gewinne wurden möglich, hohe Kursschwankungen der Papiere bei auch moderaten Kursverläufen von Aktien versprachen bei günstigem Verlauf eine Vervielfachung des Kapitaleinsatzes in einem überschaubaren Zeitraum. Einzig störend war die schlechte Berechenbarkeit der Optionsscheine mit ihren vielen schwer durchschaubaren griechischen Kennzahlen.
Die Finanzwelt und ihre findigen Ingenieure wusste jedoch Abhilfe. Aus Deutschland kam in den 90er Jahren die Erfindung der Knockouts, eines Optionsscheines, der sich nahezu 1:1 gehebelt mit dem Underlying mitbewegt. Die beliebtesten Scheine waren und sind dabei diejenigen auf den Dax. Hier entspricht sehr oft die Bewegung des Indexes um einen Punkt genau einem Cent im Preis des K.O.-Scheines. Dies macht die Sache sehr gut überschaubar. Natürlich müssen sich auch die Emittenten absichern, und so sind die Scheine mit einer K.O.-Schwelle versehen, an der sie wertlos verfallen. Der Spekulant muss also sehen, innerhalb welcher Grenzen sich das Underlying bewegen wird, wie er demnach den Preis seines Scheines wählt und wo er seine Stopps setzt. Dies macht die Spekulation sehr schnell. Kaum jemand wird K.O.-Scheine über Wochen, Monate oder gar Jahre halten, obwohl dies theoretisch möglich ist, denn es gibt Open-end-Scheine. Aber wer weiß schon, was der Dax nächstes Jahr macht?
Dazu entwickelte sich seit Beginn der 2000er Jahre rasant der Online-Handel, und so sitzen heute tausende Trader mit kleinen Konten von wenigen hundert Euro daheim vor dem Bildschirm und spekulieren. Neue Instrumente kommen hinzu, in jüngster Zeit (seit etwa 2004) sind es CFDs (Contracts for Difference), die noch besser zu handhaben und (fast) ohne Gebühren zu handeln sind, und so gibt es inzwischen im Forex-Bereich Broker, bei denen man mit 50,- (in Worten: Fünfzig!) Dollar oder Euro ein Konto eröffnen und damit handeln kann, und das rund um die Uhr. Natürlich wenden auch große, mit Milliarden kapitalisierte Hedgefonds diese Instrumente an, und sie nutzen die Power der Expert Advisers. Dies ist die eigentliche Revolution an den Finanzmärkten, und sie wurde bislang von Politikern oder der Öffentlichkeit noch längst nicht verstanden. Man glaubte 2009, eine neue Finanzkrise durch das Verbot von Leerverkäufen auf Aktien unterbinden zu können, führende Finanzpolitiker der USA machten sich dafür stark. Leerverkäufe. Auf Aktien. Die Hedgefondmanager werden flüchtig und müde gelächelt haben.